Genug ist genug, liebes Kultusministerium...

Jascha Zink

Jascha Zink

Es sind hohe Bildungsziele, die das bayerische Schulgesetz vorsieht: Verantwortungsfreudig und tolerant soll er sein, der junge Mensch am Ende seiner Schulbildung, bereit zum Einsatz für den freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat, befähigt zu selbständiger Urteilskraft wie auch zu einem verantwortlichen Gebrauch von Freiheit.

Zugegeben – große Chancen, diese Ziele zu erreichen, gab es nie, denn das System ist gar nicht erst auf sie ausgerichtet: Zwar hatte die US-amerikanische Erziehungskommission 1946 die autoritären Strukturen in Familie und Schulsystem als (nazi)deutsches Problem erkannt, ihre Forderungen nach Einheitsschule mit kooperativem Lehrer-Schüler-Verhältnis sowie politischer Bildung scheiterten jedoch am deutschen Reformunwillen (maßgeblich dem des bayerischen Kultusministers). Im Laufe der Jahrzehnte kam es in anderen Bundesländern immerhin zu einigen Reformbemühungen, und zuletzt wurde sogar in Bayern – aufgeschreckt vom Wahlerfolg der AfD? – die Stundenzahl für politische Bildung leicht erhöht, aber Demokratie ist eben nicht nur ein politisches Regierungssystem, sondern auch eine Lebensform. Dass Freiheit nicht bloß Konsumfreiheit, sondern auch politische Freiheit bedeutet, dass politische Teilhabe mehr ist als ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel, kann man nur erlebend lernen.

Zumindest für das Gymnasium gäbe das der Lehrplan mittlerweile her, und auch Methodenvielfalt und digitale Angebote haben sprunghaft zugenommen. Allerdings ist all das nicht an die Stelle bisheriger Lehrplaninhalte sowie des autoritär-hierarchisch organisierten Leistungs- und Notensystems getreten, sondern hinzuaddiert worden, was schon aus Zeitgründen nicht funktionieren kann. Noch schlimmer ist, dass Altes und Neues einander widersprechen: Wo Noten eine derart hohe Bedeutung haben, dringen Schüler:innen und Eltern im Dialog mit der Schule darauf, dass möglichst Lernwissen abgefragt wird, nicht Kompetenzen – die kann man nicht auswendig lernen. Lehrkräfte kürzen notgedrungen bei all den schönen neuen Aspekten und flüchten vor der höheren Belastung in Antragsteilzeit bzw. vor den systemlogischen Widersprüchen in den Burnout.

Schulabschlüsse sind Chancenverteilung. Die Zwei- bis Dreigliedrigkeit des Schulsystems zementiert soziale Unterschiede und ist somit eine der Ursachen dafür, dass sich ganze Milieus von demokratischer Teilhabe verabschieden (ein verborgener Schatz, der nur darauf wartet, von Rechtsaußen gehoben zu werden). Die hohe Bedeutung von Zeugnissen und Notenschnitten lässt die oben genannten Bildungsziele verblassen: Anpassung, punktgenaue Leistung, Pflichterfüllung treten in den Vordergrund. Teilen unserer Gesellschaft sowie unseres Wirtschaftssystems mag das erstrebenswert vorkommen, es passt aber nicht in unsere Gegenwart. Die Kinder bemerken diese widersprüchlichen Signale genau, was dazu führt, dass sie sich zwar an das Schulsystem anpassen (ja sich seiner Logik so weit unterwerfen, dass sie nur noch unter Notendruck überhaupt Leistung erbringen), es aber gleichzeitig insgeheim verachten und bei jeder Gelegenheit austricksen – das typische Verhalten eines Untergeordneten (natürlich auch bei Lehrkräften und Direktoratsmitgliedern beobachtbar). Das neoliberal-meritokratische Diktum „du bist für deinen Schulerfolg selbst verantwortlich“ hat mit Verantwortung und Selbstbestimmung nichts zu tun, es produziert Versagensangst und Vereinzelung (und ist sozial ungerecht). Hinzu kommt die ständige Konkurrenzsituation mit Gleichaltrigen, die auch Eltern häufig mittragen.

Ellbogenmentalität, Angst, Ohnmachtserfahrung, vordergründige Unterwürfigkeit – eine toxische Mischung. Nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Demokratie: Die Kombination führt zur Anbiederung an Stärkere und zur Abwertung Schwächerer. So gesehen, ist der Aufstieg rechtsextremer Parteien und Positionen nicht verwunderlich. Ob es nun die Selektion nach der Grundschule oder die durch Benotung ist: Die Funktionslogik ist die des „Divide et impera“, „Teile und herrsche“. Sie dient dem Erhalt eines hierarchisch geprägten Gesellschaftssystems und gründet sich auf Angst und ein negatives Menschenbild. (Den boomenden Ratgebermarkt freut’s, kann er doch der solcherart seelisch deformierten Gen Y „Think positive!“-Trostpflaster verkaufen.)

Wir leben in einer Zeitenwende. Nicht so sehr wegen des Ukrainekrieges, sondern weil sich die Zeit des Neoliberalismus (bzw. in den Wirtschaftswissenschaften die Dominanz der Neoklassik) dem Ende zuneigt. An sich wäre das eine gute Nachricht. Aber die volkswirtschaftlich völlig unsinnige Austeritätspolitik hat fürchterliche Flurschäden hinterlassen. Sozialstaat, Gesundheitssystem und Bildungssektor wurden unter dem Diktat der angeblich leeren Kassen kaputtgespart, Klimapolitik wurde ausgebremst und diskreditiert, unliebsame politische Entscheidungen als alternativlos hingestellt – all das ist hauptverantwortlich für den europäischen Rechtsruck. Es ist also die Frage, in welche Richtung sich die postneoliberalistische Gesellschaft – die es Thatchers Worten (There is no such thing as society) zum Trotz noch gibt, wenn auch teils entsolidarisiert – orientieren wird. Das thüringische Sonneberg ist ein Menetekel.

Auf der anderen Seite immerhin mehren sich Rufe nach flacheren Hierarchien, nach bürgernaher Demokratie, nach kommunal gestalteten Lösungen der Energieversorgung, nach sozialer Gerechtigkeit, nach einem an Gemeinwohl und Klimaschutz orientierten Wirtschaftssystem, nach stärkerer Regulierung des Finanzsektors sowie einer Stärkung des Kartellrechts. All das sind notwendige Korrekturen, aber teils Symptombekämpfung. Es gibt jedoch eine Stellschraube, die man drehen kann, um nachhaltig (d.h. nicht nur bis zur nächsten Pandemie) dafür zu sorgen, dass der Postneoliberalismus nicht in rechtsrandig-verschwörungstheoretischen Nationalismus mündet: das Bildungssystem. Wenn ausgerechnet das notorisch reformunwillige Bayern hier den Befreiungsschlag wagen und sich an die Spitze der anderen Bundesländer setzen würde – es wäre ein echter Coup.

Lesetipps:

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26625/der-lange-weg-zur-demokratischen-schulkultur/

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26631/politische-bildung-nach-der-jahrtausendwende/

https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayEUG/true